Hebraismen in der Alltagssprache
»Hochansehnliche Festversammlung, sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kommilitonen, Kolleginnen und Kollegen, insonderheit lieber Klaus Siewert!«
Der israelische Schriftsteller Amos Oz und seine Tochter, die Historikern Fania Oz-Salzberger, beleuchten in ihrem letztjährig erschienenen Buch Juden und Worte jüdische Wortwelten, ihre alten wie neuen Bedeutungen, Auslegungen und Wandlungen. Darin betonten sie, das Hebräische habe »manchen europäischen Sprachen« – ich ergänze: auch der unsrigen – »ein paar herrliche Wörter geschenkt, die entweder Hochheiliges oder Negativ-Niedriges bezeichnen: von Hallejuja und Amen bis hin zu Ganove und Chuzpe«.
Es gibt viele Hebraismen im Deutschen – z.B. dufte, Haberer, Ische, Maloche, Massel, meschugge, Mischpoche, Reibach, schicker, Schmiere stehen, Tacheles, Zoff, Zores, Jubel, Messias, Sabbat, Schibboleth oder Tohuwabohu.
Auf die meisten werde ich hier nicht eingehen, weil prominente Spezialisten diesen Forschungsbereich schon explizit oder implizit kenntnisreich beleuchtet haben. Ich darf stellvertretend nur fünf Kollegen hervorheben: aus der Universität Düsseldorf Marion Aptroot, von der Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien Roland Gruschka, von der Universität Trier Hans Peter Althaus, Simon Neuberg und Walter Röll.
Was hat das Gesagte mit dem hier zu Ehrenden zu tun, dem ein Halleluja zu singen wir heute in diesem wunderschönen Saal angetreten sind? Eine ganze Menge. Lassen Sie mich nur drei Meriten nennen, die den hervorragenden Forscher Klaus Siewert auszeichnen, dessen einzigartig weites Publikationsfeld ihn als einen auf der Basis empirischer Erhebungen akribisch arbeitenden Philologen und Linguisten und zugleich als hochrangigen Kulturwissenschaftler ausweist. Um den Rahmen abzustecken, wähle ich, der ich im angelsächsischen Raum der Linguistik tätig gewesen bin, das Geburtsjahr des Jubilars als Ausgangspunkt.
Alljährlich gibt es nämlich nach alter britischer Tradition ein »Oxford Dictionaries Word of the Year«: 1954 lautete es »Nowheresville«, bezeichnet also jenen Ort, an dem sich – auf Deutsch – Fuchs und Hase gute Nacht sagen.
Der Ausdruck gilt – auf Englisch – als colloquial and humorous und wird primär in den USA verwendet für »a largely unknown or uninteresting place, especially a small, rural town«. Der Begriff hat allerdings auch eine interessante übertragene, so genannte figurative meaning, nämlich: »obscurity« – im weitesten Sinne: Undeutlichkeit.
»To fade or sink or slide into obscurity« heißt »allmählich in Vergessenheit geraten, in der Versenkung verschwinden«, positiv gewendet bedeutet »to flourish in obscurity«: im Verborgenen blühen. Fokussieren wir das Idiom auf Klaus Siewert, so gelangen wir zu folgenden Erkenntnissen:
Erstens:
Seine wissenschaftlichen Bemühungen sind grosso modo darauf gerichtet, Sprachen und Sprachzustände, die im Verborgenen blühen, davor zu bewahren, in Vergessenheit zu geraten.
So hat er u.a. auch immer wieder den Blick dafür geschärft, dass Hebraismen auf unterschiedlichen Wegen ins Hochdeutsche gelangten und es bereicherten, dass einige noch deutlich, andere weniger deutlich als Fremd- oder Lehnwörter zu erkennen sind, etliche sogar zu Fach- und Sondersprachen gehören.
Dabei war ihm klar, dass Lexeme nicht mir nichts dir nichts von einer Sprache in die andere hüpfen. Er hat zu Recht auf den prozessualen Charakter des Spracheinflusses verwiesen.
Zweitens:
Klaus Siewert hat den häufig genannten Fehlschluss aufgedeckt, dass die Rotwelsch-Dialekte ihr Vokabular aus dem Jiddischen entlehnt hätten. »Im Rhein-Main-Gebiet«, so darf ich ihn zitieren, »bildete sich eine Verkehrssprache der Juden auf der Grundlage der hessischen Mundarten heraus, das so genannte Westjiddisch, das sich mit geringen Abweichungen auf den gesamten deutschen und niederdeutschen Sprachraum einschließlich der Niederlande verbreitet hat. Relikte dieser westjiddischen Sprache hat Florence Guggenheim-Grünberg in schweizerischen Rückzugsgebieten festgestellt. In anderen Sprachlandschaften des Deutschen wird das Westjiddische als jüdische Gemeinsprache vom Beginn des 19. Jahrhunderts an allmählich aufgegeben und durch jüdisch-deutsche Dialekte ersetzt, die eng an die jeweiligen Ortsmundarten angelehnt sind und sich von diesen nur durch den hebräisch-stämmigen Sonderwortschatz unterscheiden lassen.Werner Weinberg hat diese Sprachensituation für das Westfälische präzisiert und damit Grundlagen für die Beurteilung der Hebraismen in der Masematte geschaffen.«
Ich verweise bezüglich der hebräischen Komponente im Westjiddischen noch auf die Arbeit von Israela Klayman-Cohen. Und was die über regionale Mundarten vermittelten Hebraismen angeht, muss das von meinem Vorredner Dr. Post unter Mitarbeit von Friedel Scheer-Nahor edierte wunderbare Alemannische Wörterbuch für Baden mit seinen über 1700 Hebraismen genannt werden.
Hervorzuheben ist auch das von Monika Grübel und Peter Honnen jüngst vorgelegte Werk Jiddisch im Rheinland mit dem interessanten Aufsatz Klaus Siewerts über Hebraismen in deutschen Sondersprachen: hier erfahren wir u.a. etwas über die „semantische Antonymie“, wie also aus dem jiddischen meschores für Diener in der Masematte der maschores, also der Chef wird; wir erfahren ferner etwas über semantische Umorientierung, z.B. anhand des Masematten-Wortes knebbelachiler für Bauer, also denjenigen, der Brotbrocken isst.
Drittens:
– und damit komme ich zu einigen privaten Bemerkungen über den Forscher Klaus Siewert, den ich aus seinen Schriften schon lange kannte, während unsere persönlichen Begegnungen relativ jungen Datums sind. Zu diesem Behufe kapriziere ich mich auf die Schilderung dreier Wörter, zwei davon mit hebräischem, eines, wenn‘s denn dem Anglisten erlaubt ist, mit anglojiddisch-deutschem Hintergrund.
Klaus Siewert schätzt, davon konnte ich mich überzeugen, gutes Essen. Deshalb nenne ich, nachdem ich den knebbelachiler erwähnt habe, zunächst noch einmal das über das Rotwelsche in die Umgangssprache gelangte Lexem »acheln«, das vor allem im Berlinischen, Hessischen, Moselfränkischen, Pfälzischen und Rheinischen sowie in Wien für »tüchtig und/oder mit Behagen essen« steht. Es leitet sich vom jiddischen »achilen« her, das wiederum auf das hebräische Verb »a’chal« (essen) und das Deverbativ »achi’lah« (Mahlzeit) zurückgeht. Klaus Siewert ist allerdings ein Feinschmecker, so dass ein jiddischer Begriff, der aus der genannten Wortwurzel entstanden ist, nicht auf ihn zutrifft: er ist kein Gourmand, kein Vielfraß, also kein »Achelpeter«. Diesen Begriff kannten die Auricher, Eichstätter und Engadiner Juden. Bei Letzteren heißt es etwa: »Emene Achelpejter sinn aach zwei Stick Kuche nit zu vill.«
Der Buchliebhaber Klaus Siewert weiß: Auch in der schönen Literatur wurde gern geachelt. Kurt Tucholsky witzelte unter dem Pseudonym Theobald Tiger 1929 in der »Weltbühne« in einer Persiflage über das deutsche Vereinsleben: »Der Igel saß stumm, ohne zu acheln und sträubte träumerisch seine Stacheln – Messer und Gabel rollten über die Decke. Sie rollten zum Reichsverband Deutscher Bestecke.« Dem Hebraisten Werner Weinberg schließlich verdanken wir den resignativen, aber wunderbaren Schüttelreim: »Was nützet mir ein Kachelofen, kann ich mir nichts zum Acheln kofen.« Da man zu gutem Essen auch gern einen Schluck trinkt, wähle ich als weiteres Lexem das regional und in Sondersprachen (z.B. der Münsterschen Masematte) geläufige Adjektiv »schicker« (betrunken), das auf dem bedeutungsgleichen hebräischen »schikkōr« beruht und wie das Verb »schickern« (für Alkohol trinken) direkt aus dem Westjiddischen in die Dialekte gelangte. Dem Quatschkopf hielt man entgegen: »Ich glaab‘, du bist schicker!«, über den Sonderling hieß es: »Das ganze Johr schicker un am Purim nüchtern.« Und heute? Robert Sedlaczeks Wörterbuch des Wienerischen (2011) kennt neben dem Adjektiv sogar noch das Substantiv »Schicker« – für den Säufer, aber deutsche Lexika führen meist nur die Formen »beschickert« und »angeschickert« (im Sinne von beschwipst) auf.
Es dürfte kaum einen »Dämmerschoppenschickerschauter« geben – auch dieses Wort findet sich in Klaus Siewerts phantastischem Wörterbuch der Masematte – dem bewusst ist, dass auch die englische und französische Bezeichnung »cider« bzw. »cidre« für moussierenden Apfelwein auf das mittelenglische »sidre« sowie das anglofranzösische und spätlateinische »sicera«, das griechische »sikera« und das hebräische »shēkhār« (für starkes Getränk) zurückgehen.
Das Fazit über den Wissenschaftler Klaus Siewert zu ziehen, der stets auch studentische Mitglieder der akademischen Gemeinde in seine empirischen Erhebungen integriert und sie damit für die Sprachwissenschaft begeistert hat, fällt mir leicht. Bei meinem letzten Wort mache ich als Anglist einen kleinen Schwenk zu jenen Jiddismen im Umgangsenglisch, die der Autor Leo Rosten unter dem Begriff »Yinglish« zusammenfasst. Zu den deutschstämmigen Wörtern, die, z.T. semantisch modifiziert, über das Jiddische ins Englische eindrangen, zählt – neben »dreck« (Müll), »glitzy« (glitzernd), »kibitz« (Kiebitz), »to shlep« (schleppen), »schmaltzy« (sentimental), »schmear« (Bestechung), »shtum« (sprachlos), »shvitz« (schwitzen), »swindler« (Lügner), »yahrzeit« (Todestag des Verstorbenen) und »zaftig« (üppig) – in vier orthographischen Varianten auch das Äquivalent für »Mensch«. Der Kolumnist Richard Cohen ernannte 1986 in der Washington Post das Wort »Mensch« zum größten Geschenk des Jiddischen an die englische Sprache. Rosten schrieb schon 1968 in seinem Buch The New Joys of Yiddish:
»It is hard to convey the special sense of respect, dignity, and approbation that can be conveyed by calling someone a real mentsh.« (»Es ist gar nicht leicht, den Respekt, die Würde und die Zustimmung zu vermitteln, die in dem Begriff mitschwingt, wenn jemand ›a real mentsh‹ genannt wird.«)
Von den vielen jiddischen Lebensregeln zum Menschen thematisierte Max Weinreichs History of the Yidddish Language (1980) den Spruch »A mentsh heyst mentsh vayl er mentshet zikh«, bei dem das Wortspiel erst durch die Integration der slawischen Komponente »mentshen« (= kämpfen) entsteht.
Dass es nicht leicht ist, sich einen Reim auf das Wort »Mensch« zu machen, wusste schon Alexander Moszkowski, als er 1920 in seiner Zeitschrift Lustige Blätter, die während der Weimarer Republik hohe Auflagen erreichte, das Gedicht »Mensch, reime Dich!« veröffentlichte: »Er hat der Laster mancherlei / Entwickelt zu allen Zeiten; / Doch, dass er nicht mal reimbar sei, / Der sogenannte Mensch, / Das muss man doch ganz entsch… / Ja, ganz entschieden bestreiten! / Zwar mancher legt drauf keinen Wert, / Wenn er die Reimbarkeit erfährt, / Die man ihm früher unterschlagen; / Und zeigt sie ihm der Mensch, / So wird er bloß: nu wenn’sch… / Nu, wenn schon! wird er sagen.«
Zwei Fragen zum Schluss: Was wünschen wir Klaus Siewert? Privat und beruflich hebräisch mazeltov und auf deutsch weiterhin Hals und Beinbruch. Auch das ist übrigens reines Hebräisch, heißt ursprünglich ›hazlóche un bróche‹ (hazlachá = Glück und b’rachá = Segen) und wird auch heute noch von Juden in dieser ursprünglichen Formel hebräisch und jiddisch verwendet. Deutsche Zuhörer missverstanden die Glücksformel und bewahrten sie in verballhornter Form als »Hals- und Beinbruch«.
Die Sprachformel war keineswegs unumstritten, obwohl solche geprägten Wendungen, pragmalinguistisch gesehen, häufig dem Wortsinn völlig konträre Aussageabsichten transportieren. 1914 beklagte J. W. Petersen im Morgenblatt für gebildete Stände: »Hals und Beinbrechen ist eine sehr gewöhnliche, aber ganz ungereimte Redensart. Es sollte heißen: Bein und Hals brechen. Denn ist einmal der Hals gebrochen, so ist vom Beinbruch keine Rede weiter.« Da Klaus Siewert aber auch privat in medizinisch liebevollen Händen ist, müssen wir uns um ihn auch in dieser Richtung keine Sorgen machen.
Die zweite Frage: Wie würde ich auf Englisch den Wissenschaftler Klaus Siewert beschreiben?
Klaus Siewert is a fine scholar – and he is a real mentsh.
… wie soll man ihn denn beschreiben? In einem Vorwort vorstellen? Über ein Foto nahebringen? Denjenigen, der morgens philologische Feinarbeit verrichtet und abends La Paloma singt. Dessen bewegter Geist immer wieder die von Fächern gesetzten Grenzen überwindet. Der für gelingendes menschliches Leben Engagement fordert, das er – mit dem Prinzip der Liebe verbunden – in der Lehre entfacht und in der Forschung entfaltet. Der außerhalb der akademischen Welten die Menschen erreicht, sei es auf Feldforschungen in sozialen Randgruppen, in Parallelwelten auf dem Kiez in St. Pauli oder bei den Hamburger Kedelkloppern. Der sich dafür einsetzt, auf das vermeintliche Recht der Beurteilung anderer Menschen zu verzichten und Verurteilung zu missachten, stattdessen zu begreifen und so Prozesse in Gang zu bringen, die Freiheiten schaffen und zu selbstbestimmter Kontrolle und Disziplin führen.
Diese Festschrift ist für keinen „in die Jahre gekommenen“ Mann, wie man gemeinhin den Zustand einsetzender Mattigkeit beschreibt, sondern für einen Seemann, der auf dem Meer unentdeckter Möglichkeiten menschlicher Existenz, Wissenschaft und Kunst unter vollen Segeln segelt, getrieben von steifen Brisen der Leidenschaft, dabei die Hand stets fest am Ruder und im tiefen Vertrauen auf die Mannschaft.
Dem Wissenschaftler: Weitermachen!
Dem Lehrer: Mehr davon!
Dem Kollegen: Herzlichen Glückwunsch!
Dem Freund: Schön, dass wir uns über den Weg gelaufen sind!
Christoph Gutknecht / Hamburg
Rudolf Post / Freiburg im Breisgau
Jochen P. Becker / Köln
Klaus Siewert ist am 15. Februar 1954 als zweiter Sohn des Bauingenieurs Heinrich Siewert und seiner Ehefrau Christa geb. Müller in Minden/Westfalen geboren worden. Seine Kindheit verbrachte er in dem kleinen Dorf Lerbeck am Nordhang des Wesergebirges und in der Lüneburger Heide.
Nach dem Abitur 1972 am Besselgymnasium in Minden studierte er Germanistik, Geschichte, Philosophie und Pädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Parallele Studien in den Fächern Archäologie und Außereuropäische Sprachen und Kulturen führten noch während seines Studiums zu Studienaufenthalten am Deutschen Archäologischen Institut in Rom und im Nahen und Mittleren Orient. 1979 schloss er sein Studium mit der ersten philologischen Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien mit Auszeichnung ab. Thema der Staatsarbeit: Die repräsentative und propagandistische Funktion stadtrömischer Triumphalarchitektur. In den nächsten Monaten arbeitete er als Lehrer in den Fächern Deutsch und Geschichte an einem Gymnasium, begann am Althistorischen Institut der Universität Münster eine Dissertation mit dem Thema „Streiks in der römischen Antike“ und gründete eine Familie. 1980 ereilte ihn dann ein Angebot der Göttinger Akademie der Wissenschaften, das ihn zur Germanistischen Sprachwissenschaft brachte. Im Rahmen des Forschungsunternehmens „Althochdeutsches Wörterbuch“ wurde er 1984, zwei Jahre nach der Geburt seiner Tochter Sara, mit seiner Dissertation ”Die althochdeutsche Horazglossierung” mit summa cum laude zum Dr. phil. promoviert. Dem Forschungsunternehmen der Akademie verlieh er in der Folgezeit u.a. durch die Erfindung des „Indizienbegründeten Selektionsverfahrens“, eigene gewichtige Quellenfunde, die Lösung eines als unlösbar geltenden philologischen Problems (Festschrift Beitrag Kassel) weitere wesentliche Impulse. Währenddessen lehrte er Deutsche Sprache und Deutsche Literatur des Mittelalters an der Universität Münster.
Zeiten der Wende: 1989 erhielt er das von Strauß und Honnecker ausgehandelte Forschungsstipendium im Rahmen des Deutsch-Deutschen Kulturabkommens „Älteste Quellen der deutschen Sprache auf dem Gebiet der DDR”. Von der DDR bezahlt und mit quasi diplomatischen Freiheiten ausgestattet geriet er in die Zeit des politischen Umbruchs, arbeitete in Leipzig, nahm an den Montagsdemonstrationen teil und kam in Kontakt mit Führungskräften des deutschen Widerstandes. Nach einer falschen Weltmeldung über die vermeintlich friedliche Montagsdemonstration am 3. Oktober 1989 in Leipzig, in der erstmals Betriebskampfgruppen der DDR mit Schlagstöcken und Schäferhunden eingriffen, nahm er noch in der Nacht durch ein über Ost-Berlin nach Köln herausgeschmuggeltes Telegramm Kontakt mit dem WDR in Köln auf und klärte Stunden später im Morgenmagazin des Senders unter abenteuerlichen Umständen aus Leipzig über die wahren Verhältnisse auf. Nach einem missglückten Anschlag auf sein Leben veranstaltete er dann nach seiner Rückkehr in den Westen 1990 zusammen mit Mitgliedern des Leipziger Bürgerkomitees im Rathaus zu Münster die Ausstellung „STASI – Macht und Banalität“.
Wende auch in der Wissenschaft: ab den 1990er Jahren baut er die in Deutschland arg vernachlässigte Sondersprachenforschung wieder auf und schafft zusammen mit engagierten Studenten und Kollegen die dringend benötigten Strukturen auf den Ebenen Logistik, Organisation, Netzwerke, Methodik. Stationen auf diesem Weg sind die Gründung der studentischen Projektgruppe Masematte 1988, die Arbeitsstelle Sondersprachenforschung an der Universität Münster, die Entwicklung des methodischen Rüstzeugs für Dokumentationen und Forschungen auf diesem Gebiet, die Finanzierung der Dokumentationen durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Veranstaltung Internationaler Symposien zur Sondersprachenforschung (I/1995 bis IX/2013 ff.), die Installierung einer Reihe „Sondersprachenforschung“ als publikatorisches Forum und schließlich die 1999 gegründete Internationale Gesellschaft für Sondersprachenforschung (IGS), deren Präsident Klaus Siewert bis heute ist. 1994 erhält er ein Habilitandenstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), das es ihm erlaubt, sämtliche Kräfte auf die noch fehlenden Voraussetzungen für eine zukunftsstarke Sondersprachenforschung in Deutschland und der Welt zu schaffen. Mit dem Werk „Grundlagen und Methoden der Sondersprachenforschung“ ist diese Aufgabe 1998 erledigt; vom Fachbereich Philologie der Philosophischen Fakultät als Habilitationsschrift angenommen erhält er noch im selben Jahr die professorale Lehrbefugnis Venia Legendi für Deutsche Philologie/Sprachwissenschaft. In den folgenden Jahren übernimmt er Professuren an der Technischen Universität Darmstadt und an der Universität Paderborn, derweil die wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Sondersprachenforschung weiterlaufen: vorrangig ist die Dokumentation des noch vorhandenen Sprachwissens der Sprecherinnen und Sprecher untergehender Rotwelsch-Dialekte; deren berechtigter Anspruch auf das daraus entstehende Buch bringt zunächst in Verlegenheit und Klaus Siewert 2007 dann auf die Idee: die Gründung des Geheimsprachen Verlages, der aus wissenschaftlichen Büchern populärwissenschaftliche Versionen schafft. Als Doktorvater betreut er Dissertationen zu noch nicht dokumentierten und unerforschten Sondersprachen, aber auch auf eigenen Feldforschungen seiner Studierenden beruhende Magister- und Staatsarbeiten sichern vom Untergang bedrohtes Sprachwissen. Sprachdaten aus solchen Einzelstudien sind seit 20 Jahren in das von Klaus Siewert begründete und nunmehr vor der Vollendung stehende „Wörterbuch deutscher Geheimsprachen“ eingegangen.
Neben dem Leben in Münster, den dort laufenden Forschungen, Lehrverpflichtungen an der Universität, Leitung des Verlages und ehrenamtlichen Tätigkeiten als 1. Vorsitzender im Zweig Münsterland der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) und in der IGS zieht es ihn seit jeher ans Meer. Dort an der Nordseeküste, auf der Warft des kleinen Dorfes Wiarden im Wangerland, schmiedet er neue Pläne, betreibt Sprachforschung vor Ort, wird durch den Zauber der Landschaft zwischen den Gezeiten zur Literatur gezogen, mit dem Lyrik-Bildband „Wangerland von oben“ zum Botschafter des Wangerlandes ernannt, erfindet den neuen Sprach- und Literaturpreis „Landschreiber-Wettbewerb“ und baut mit dem neuen Literaturverlag „Auf der Warft“ einen neuen Hafen.